Multilateralismus bewahren – Ordnungspolitik in einer unruhigen Welt

Am 17. und 18. Oktober 2025 waren Mitglieder der Ludwig-Erhard-Stiftung und ihres Berliner Think-Tanks Ludwig-Erhard-Forum auf großer Reise. Zum ersten Mal veranstalteten wir eine internationale Tagung auf dem Campus der Universität in Princeton. Ordnungsökonomen aus verschiedenen US-Hochschulen wie Princeton, Cornell und Stanford, aber auch von der London School of Economics sowie von Washingtoner Think-Tanks trafen sich unter Moderation von Prof. Stefan Kolev mit unserer deutschen Delegation. Das alles war möglich, weil die beiden international renommierten Princeton-Professoren Harold James und Markus Brunnermeier damit erneut ihre enge Verbundenheit zu der Arbeit Ludwig Erhards unter Beweis stellten. „Die geoökonomische Resilienz des Multilateralismus: Macht für einige wenige oder Wohlstand für alle?“, so lautete der sicherlich akademische Titel, unter dem wir zwei Tage die Herausforderungen des Erhalts der Vorteile weltweit freier Märkte unter möglichst gleichen Bedingungen für alle diskutieren konnten.

Regeln für Weltwirtschaft statt Nationalismus

Ludwig Erhard verstand Wirtschaft nie als nationale Insel. Für ihn war die Soziale Marktwirtschaft ein Ordnungsprinzip, das Freiheit, Verantwortung und Fairness miteinander verbindet. Wettbewerb sollte Wohlstand schaffen, aber nur innerhalb eines Rahmens, der Vertrauen und Stabilität garantiert. Dieses Denken brachte den Erfolg in Deutschland, den viele ein Wirtschaftswunder nennen, es prägte aber, neben der frühen Europäischen Integration, auch die internationale Wirtschaftsordnung nach 1945. Freier Handel, gemeinsame Institutionen  – von Internationalem Währungsfonds und Weltbank bis zur Welthandelsorganisation WTO – entwickelten sich über die Zeit. Multilaterale Regeln wurden zum Ausdruck der Überzeugung, dass Kooperation unter möglichst gleichen Bedingungen für alle besser ist als Abschottung und Privilegierung einzelner Partner. Die gegenseitig erhobenen Zölle und andere Handelsbeschränkungen verloren immer mehr an Bedeutung.

Heute steht diese Überzeugung auf der Probe. Die Vereinigten Staaten, einst Motor des freien Welthandels, wenden sich unter Führung von Donald Trump zunehmend von multilateralen Strukturen ab. Man muss der Fairness halber hinzufügen, dass dies durchaus breite Unterstützung in der Politik des USA findet. Industriepolitik und Handelsentscheidungen folgen nationalen Interessen, Zölle werden geradezu zum Allheilmittel der nationalen Probleme erklärt. Protektionismus ersetzt die frühere internationale Ordnungspolitik. Das scheint kurzfristig populär zu sein und wir sehen diesen ökonomischen Nationalismus aktuell in vielen Demokratien. Die in Princeton versammelten Ökonomen bleiben dennoch bei der Überzeugung, dass eine solche Strategie auf Dauer die Grundlagen des Wohlstands untergräbt – auch in den USA selbst. Denn wirtschaftliche Stärke entsteht aus Offenheit, Verlässlichkeit und gegenseitigem Vertrauen, nicht aus kurzfristigem Vorteil.

Es geht um Freiheit, Wohlstand, Frieden

Ludwig Erhard hätte diesen Weg als Rückfall in alte Irrtümer gesehen. Er wusste, dass Märkte nur funktionieren, wenn sie auf festen Regeln für alle beruhen. Ohne Vertrauen in Ordnung und Vertragstreue wird Wettbewerb zerstörerisch. Diese Einsicht gilt national wie international. Eine Welt, in der jeder nur den eigenen Nutzen sucht, schwächt das Ganze. Eine Welt, die gemeinsame Regeln achtet, schafft Innovation und Stabilität. Daher ist Multilateralismus als Ordnungsmodell kein Ideal der letzten 70 Jahre, sondern eine rationale Antwort auf die Herausforderung von Freiheit, Wohlstand und Frieden für Alle. Er sichert Berechenbarkeit in einer Welt, die von Krisen und Unsicherheiten geprägt ist. Die aktuellen Handelskonflikte und ihre Folgen an den Börsen, Lieferengpässe und technologische Blockbildungen zeigen bereits, wie teuer das Fehlen gemeinsamer Regeln werden kann.

Europa braucht die Welt als Markt

Für Europa sind diese Entwicklungen existenziell.  Wir, auch und gerade in Deutschland, hatten die weltweite Offenheit der Märkte immer mehr als eine Selbstverständlichkeit empfunden und sehr davon profitiert. Jetzt sehen wir, dass nicht alles so bleiben wird, wie wir es gewohnt waren. Wir müssen Strategien entwickeln, um die Wurzeln der internationalen Wirtschaftsordnung zu erhalten. Die Institutionen der letzten Jahrzehnte gehören auf den Prüfstand, manche müssen verbessert werden, andere neu gedacht.

Aber wie kann der freie Welthandel in der aktuellen Situation gesichert werden? Institutionen wie die WTO haben Vertrauen durch gemeinsame Regeln und Schiedsgerichtsbarkeit aufgebaut, aber das Konsensprinzip und veraltete Regeln lähmen die Organisation. Immer mehr Länder wenden sich bilateralen oder regionalen Abkommen zu, was zu einer Fragmentierung des Welthandels und zur Privilegierung mächtiger Partner führt. Diese Vereinbarungen modernisieren Vorschriften schneller, machen aber das System komplexer und schwächen die Vision eines einheitlichen globalen Regelwerks.

Eine neue Ordnung?

Eine Wiederbelebung der multilateralen Ordnung durch Institutionen wie die WTO erscheint kurzfristig unwahrscheinlich, da das politische Klima – insbesondere die Rivalität zwischen den USA und China – einen globalen Kompromiss erschwert. Angesichts globaler Herausforderungen wie Klima-, Gesundheits- und Lieferkettenkrisen wird jedoch immer noch von vielen anerkannt, dass gemeinsame Lösungen unerlässlich sind. WTO-Reformen wären für viele die erste Wahl, denn diese Ordnung ist gewachsen. Aber dann müssen neu Ansätze wie Mehrheitsentscheidungen, Modernisierung der Regeln und die Reparatur des Streitbeilegungsprozesses auch kommen. Wahrscheinlich ist das wegen des Einstimmigkeitsprinzips unmöglich. Alternativ kann man an „Koalitionen der Willigen“ als neue Handelsallianzen denken. Ist es möglich, dass die grundlegende Aufteilung der Welt in größere Wirtschaftsblöcke mit relativ hoher interner Integration und kontrollierten Handelsströmen zwischen den Blöcken eine Option ist, eine Welthandelsorganisation von 166 Mitgliedern auf nur ein Dutzend zu reduzieren? Könnte eine solche Organisation unabhängig von Weltanschauungen und Regierungssystemen besser in der Lage sein, einen regelbasierten Dialog aufrechtzuerhalten? Darüber muss gesprochen werden und Princeton war ein solcher Ort des Gesprächs. Wir sind zuversichtlich, dass die Ergebnisse in einem „Princeton Memorandum zur Zukunft des Multilateralismus“ zusammengetragen werden und dies einen Anstoß für weitere Diskussionen gibt.

Ludwig Erhards Maßstäbe

Ludwig Erhards Denken bietet dafür Orientierung über Deutschland hinaus. Seine Soziale Marktwirtschaft war stets mehr als ein ökonomisches Modell. Sie war eine Kultur des Maßes, der Verantwortung und der Partnerschaft. Ihre internationale Entsprechung ist der Multilateralismus. Beide beruhen auf demselben Prinzip: Freiheit braucht möglichst privilegienfreie Regeln für alle, und Wettbewerb braucht Vertrauen. Wenn viele in den Vereinigten Staaten diesen Gedanken derzeit aus den Augen verlieren, sollte Europa umso entschlossener an ihm festhalten. Nicht als moralische Pose, sondern aus eigenem Interesse. Die Zukunft des Wohlstands hängt davon ab, ob wir eine offene, regelbasierte Weltwirtschaft erhalten. Wer sie aufgibt, verliert am Ende mehr als nur Märkte – er verliert die Grundlage seiner eigenen Freiheit.